Wegen der hohen Pflegekosten führen Schwerstbehinderte ein Leben auf
Sozialhilfeniveau
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Fühlt sich diskrimimiert: Oswald Lutz
Von Sven Loerzer
Schwerstbehinderte haben es nicht nur schwerer, Arbeit zu finden, sondern
sie müssen trotz Arbeitseinkommen ein Leben auf Sozialhilfeniveau führen.
Der selbst schwerst körperbehinderte städtische Behindertenbeauftragte
Oswald Utz kennt diese Situation aus eigener Betroffenheit. Er hat die
höchste Pflegestufe und ist deshalb im Alltag auf Hilfe angewiesen. Da die
Leistungen der Pflegeversicherung dafür nicht ausreichen, erhält er vom
Sozialamt Hilfe zur Pflege. Doch das bleibt nicht ohne Folgen für ihn und
seine Partnerin, mit der er in einem gemeinsamen Haushalt lebt: „Wir haben
zusammen ein Einkommen in Höhe von rund 2700 Euro netto monatlich. Da ich
Hilfe zur Pflege benötige, reduziert sich unser beider Einkommen auf
Sozialhilfeniveau."
Für
beide bedeutet das ein Leben in Armut, daran wird sich nichts ändern,
„obwohl wir beide arbeiten und aus diesem Einkommen unseren Lebensunterhalt
bestreiten könnten". Utz empfindet dies als diskriminierend. Hilfe zur
Pflege, fordert der Behindertenbeauftragte, müsse unabhängig vom Einkommen
und Vermögen bezahlt werden. Als erster Schritt dazu sollten die Freibeträge
erhöht werden: „Behinderte Menschen, die auf Hilfe zur Pflege und dafür auf
Sozialhilfe angewiesen sind, sind schlechter gestellt als
Hartz-IV-Empfänger." Denn sie hätten höhere Freibeträge.
„Behinderung heißt Armut und Diskriminierung", sagt Heinz Karrer,
Vorsitzender des Behindertenbeirats, der unter diesem Titel die Neuauflage
einer Broschüre zu dem Thema vorgestellt hat. „Erst wenn Menschen mit
Behinderungen einen bedarfsgerechten Ausgleich für behinderungsbedingte
Nachteile haben, kann von Chancengleichheit gesprochen werden", sagt Karrer.
Aufgrund der durch die Behinderung bedingten hohen Kosten werde sonst Armut
zum „unabwendbaren Schicksal" für viele Menschen mit Behinderung.
Fast die Hälfte der rund 140 000 Menschen in München, die amtlich
festgestellt einen Behinderungsgrad von mehr als 30 Prozent haben, wären vom
Alter her erwerbsfähig. Wie viele von ihnen tatsächlich erwerbsfähig sind,
wird gerade in einer Studie ermittelt, erklärte Sozialreferentin Brigitte
Meier (SPD). Knapp 2400 Schwerbehinderte waren Ende des vergangenen Jahres
arbeitslos gemeldet. Zwar müssten alle Arbeitgeber mit mehr als 20
Arbeitsplätzen gesetzlich vorgeschrieben
Behinderte hoffen auf Einführung eines Behindertengeldes.
mindestens fünf Prozent Schwerbehinderte beschäftigen. Doch viele
Arbeitgeber erfüllen nicht die Pflichtquote und zahlen statt dessen lieber
eine Ausgleichsabgabe. Die Landeshauptstadt und ihre Unternehmen haben sich
zu einer Beschäftigungsquote von sechs Prozent verpflichtet, im Schnitt
seien Ende 2009 sogar 6,76 Prozent erreicht worden, so Meier. Bei den
Langzeitarbeitslosen zeigt sich, dass Schwerbehinderte erheblich
benachteiligt sind: Die
Quote derer, die 2010 in Arbeit vermittelt werden konnten, ist nicht einmal
halb so hoch wie bei Nichtbehinderten.
Auf dem Arbeitsmarkt „in doppelter Hinsicht diskriminiert" seien die
Schwerbehinderten, die 50 Jahre und älter sind, erklärte Ulrike Mascher,
Präsidentin des Sozialverbands VdK. Die Armutsgefährdung treffe häufig aber
auch Mütter, die sich allein um ihre behinderten Kinder kümmern: „Wer sich
um ein Kind mit Behinderung kümmern muss, hat noch weniger Chancen auf dem
ohnehin dünnen Arbeitsmarkt für alleinerziehende Mütter." Kinder mit
Behinderung bleiben oft noch als Erwachsene im elterlichen Haushalt. So
könnten die Mütter auch dann meist nur in geringem Umfang arbeiten gehen. Im
Zuge der Hartz-IV-Reform sei nun ausgerechnet der Hartz-IV-Regelsatz für die
erwachsenen Kinder in Haushaltsgemeinschaften um 20 Prozent gekürzt worden.
Damit sinkt er um 73 auf 291 Euro. Eine solche Benachteiligung sei nicht mit
der UN-Behindertenrechtskonvention vereinbar, betonte Mascher.
Waltraud V. hat ihren Beruf aufgeben müssen, um ihre Tochter zu versorgen:
„Ich habe mich entschieden, dass ich meiner schwerstbehinderten Tochter ein
Leben in der Familie und nicht im Heim ermöglichen möchte." Waltraud V. lebt
von einer kleinen Rente, die Tochter bekommt Sozialhilfe. „Immer wieder habe
ich das Gefühl, dass ich mich für diese Entscheidung rechtfertigen muss. Ich
empfinde das als andauernden Kampf. Das ist nervenaufreibend, zermürbend und
manchmal auch diskriminierend."
Waltraud V. wünscht sich, dass ihre Entscheidung respektiert wird. Sie hofft
darauf, dass es eines Tages ein Behindertengeld gibt, damit ihre Tochter
unabhängig ist von Sozialhilfe. Auch Esther H., die Vollzeit in einer
Werkstatt für Menschen mit Behinderungen arbeitet, erlebt immer wieder, was
es bedeutet, auf Sozialhilfe angewiesen zu sein: Etwa wenn ihr die vom
Arbeitgeber bezahlte Weihnachtszulage von der Sozialhilfeleistung abgezogen
wird. Obwohl sie arbeitet, kann sie sich Urlaub nicht leisten: „Da bin ich
auf Spenden angewiesen."
SZ / 04.04.2011