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Christine Mayr (links), Behindertenbauftrage der Stadt und Anita Read,
Behindertenbeauftragte des Landkreises.
23 421 Menschen mit einer Schwerbehinderung leben in der Region Rosenheim.
Stadt und Landkreis haben auf der Basis der EU-Behindertenrechtskonvention
einen sogenannten Teilhabeplan für sie entwickelt. Das Schlüsselwort dabei
heißt „Inklusion", ein Begriff, der vielen noch fremd ist. Wir wollen mit
einer kleinen Serie verdeutlichen, was Inklusion und Teilhabe konkret für
die Behinderten bedeuten.
Rosenheim/Landkreis — Inklusion heißt: Alle Menschen sind von Anfang an Teil
der Gesellschaft. Unterschiede sollen als Normalität und Teil der
menschlichen Vielfalt begriffen werden. Menschen mit Behinderung sollen von
Anfang an selbstverständlich mit dazugehören. „Das bedeutet nicht nur, dass
der Staat und die Kommunen gefordert sind. Auch unsere Gesellschaft soll
sich für die Menschen mit Behinderung einsetzen", sagt Christine Mayer als
Behindertenbeauftragte der Stadt Rosenheim. Ihre Kollegin Anita Read, die
die Behinderten im Landkreis vertritt, ergänzt: „Sowohl in meinem
beruflichen Umfeld als auch im Ehrenamt fällt mir immer wieder auf, dass
Menschen mit Behinderungen nach ihren Defiziten gefragt und entsprechend
beurteilt werden. Nach deren vielfältigen Ressourcen wird nicht gefragt."
Besonders gravierend mache sich diese Haltung dann bemerkbar, wenn Menschen
mit Behinderungen Hilfe von den Behörden beanspruchen. „Was geschieht mit
einem Menschen, wenn er immer über seine vermeintlichen Defizite sprechen
muss?", überlegt Read.
Stadt und Landkreis Rosenheim haben in einer Studie die Lebensbedingungen
der Betroffenen untersucht. Der daraus erstellte Teilhabe- plan informiert
über die tatsächliche Situation und darüber, wo Handlungsbedarf besteht.
Über 380 Bürger haben an vier Teilhabe-Konferenzen teilgenommen. 3600
Menschen mit Behinderung wurden befragt.
Jetzt geht es darum, diesen Plan mit Leben zu füllen und Schritt für Schritt
umzusetzen. Wie sieht die gesellschaftliche Veränderung in Stadt und
Landkreis aus? Christine Mayer sagt: „Die Menschen wollen in erster Linie
als Mensch gesehen werden und nicht als Behinderte." Ein junger Mann hat
einmal zu ihr gesagt: „Du, ich habe das Down-Syndrom, aber sonst bin ich
ganz normal."
Dieses „Normalsein" erlebe sie im Alltag noch nicht oft, eher, dass Menschen
mit Behinderung „komisch angeschaut", nicht direkt angesprochen, dass
Begleiter gefragt werden, was er oder sie wolle. Oft würden Behinderte auch
automatisch geduzt. Mayer und Read sind sich einig: „Die Inklusion ist in
der Gesellschaft noch lange nicht angekommen. Wir sind zwar schon ein Stück
vorangekommen, haben aber noch einen langen Weg vor uns."
Im Kindergarten wird Inklusion von Kindern mit Behinderung zunehmend
Realität. Darüber freuen sich die Behindertenbeauftragten, denn damit komme
der frühkindlichen Bildung gesellschaftlich eine Vorreiterrolle in Bezug auf
die Umsetzung der Inklusion zu. So werde das Zusammensein zur Normalität.
Auch in der Schule gibt es eine aus Mayers Sicht erstaunliche Entwicklung.
In der Grundschule Erlenau in Rosenheim, wo Kinder mit und ohne Behinderung
in Kooperation unterrichtet werden, sei die Skepsis der Eltern
nichtbehinderter Kinder erst groß gewesen. Jetzt sei die Nachfrage nach den
sogenannten Partnerklassen größer als das vorhandene Platzangebot.
„Hier merkt man ganz deutlich ein Umdenken", sagt Mayer, „nur wenn wir alle
umdenken, können wir die Gesellschaft nachhaltig verändern. Unsere Aufgabe
in Stadt und Land ist es nun, viele Möglichkeiten der Begegnungen zu
schaffen. Manchmal ist eben nur die Behinderung im Vordergrund sichtbar.
Aber wenn man genauer hinschaut, entdeckt man wunderbare Menschen." bi
Serie: Inklusion und Teilhabe
OVB Oberbayerisches Volksblatt Rosenheim, 23./24.08.2014