Es vergeht kaum die Zeit eines Wimpernschlags, da haben sich Gesunde meist
schon entschieden: Die Vorstellung, dass ihr Körper vollständig gelähmt ist,
erscheint ihnen schier unerträglich. „Ich wäre lieber tot", sagt fast jeder.
Fast jeder, der keine Ahnung hat. Menschen nämlich, deren Körper tatsächlich
vollständig gelähmt ist, wären nicht lieber tot. Die Allermeisten sind
zufrieden mit ihrem Leben, wie eine belgische Studie mit Patienten zeigt,
bei denen ein „Locked-in-Syndrom" vorliegt. Diese Patienten sind gefangen in
ihrem unbeweglichen und meist gefühllosen Körper. Nach einem Schlaganfall
kann so etwas geschehen, infolge einer degenerativen Erkrankung oder durch
einen Unfall. Die Patienten müssen fast immer beatmet und künstlich ernährt
werden.
Trotzdem bezeichneten sich 72 Prozent von 65 Locked-in-Patienten in der
belgischen Studie als glücklich. Manche konnten dies mühsam sagen, die
meisten antworteten mit Hilfe der einzigen Regungen, die ihnen geblieben sind: Viele Betroffene können wenigstens
blinzeln oder die Augen hin und her bewegen. Wenn ein Pfleger oder ein
Computer das Alphabet abspielt, stoppen die Patienten es per Lidschlag. So
teilen sie sich mit.
Nur sieben Prozent der befragten Patienten sagten, dass sie lieber tot
wären, wie Ärzte um Steven Laureys der Universität Lüttich nun im British
Medical Journal Open berichten. Laureys ist nicht grundsätzlich dagegen,
lebensverlängernde Maßnahmen wie Beatmung und künstliche Ernährung im
Einzelfall zu beenden. „Die Patienten sollten aber unbedingt wissen, dass
sie bei guter Pflege eine ernsthafte Chance haben, wieder ein glückliches
Leben zu führen."
Die erste Zeit erleben die Betroffenen fast immer als furchtbar, wie auch
die
neue Studie belegt. Fassungslos über den Verlust all dessen, was einmal ihr
Glück ausmachte, fallen viele in eine schwere Depression. Es gibt kein
selbstbestimmtes Leben mehr, keine Zärtlichkeit und nicht einmal mehr gutes
Essen. Es gibt nur noch das Bewusstsein, das Ich in seiner losgelöstesten
Form. Das ist zunächst kaum auszuhalten, aber dann wird es besser. Der
Mensch gewöhnt sich eben an alles, selbst an den Verlust seiner
Körperlichkeit.
„Diesen Patienten geht es erheblich besser, als sich das ein Gesunder
vorstelkann", bestätigt auch Niels Birbaumer von der Universität Tübingen, der vor
einigen Jahren selbst das Lebensglück von Locked-in-Patienten studiert hat.
Patientenverfügungen sind für den Psychologen und Neurobiologen seither
ein Graus. Kein Gesunder wisse, wie er als Kranker entscheiden würde, warnt
er. Es seien oft nur die anderen, die den Patienten einredeten, dass ein
Leben in Abhängigkeit von Maschinen nicht mehr lebenswert sei.
Ähnlich erging es auch dem französischen Journalisten Jean-Dominique Bauby.
"Weißt du, dass Bauby zu Gemüse geworden ist?", tuschelte die feine Pariser
Gesellschaft im Cafe de Flore, diesem „Basislager des Pariser Snobismus". So
schrieb es Bauby in seinem Buch „Schmetterling und Taucherglocke", das er
allein mit Hilfe seines linken Augenlids diktiert hatte. Zu den Snobs hatte
er als Chefredakteur der Modezeitschrift Elle selbst gehört, bevor ein
Schlaganfall ihn zum Gefangenen seines Körpers machte. Wie in einer
Taucherglocke fühlte er sich, „bei vollem Bewusstsein auf ein Quallendasein herabgemindert". Doch die Schmetterlinge, die Imagination und die
Erinnerungen, sie waren ihm geblieben.
Christina Berndt
Februar 2011 - TZ