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Ein mühsam selbstbestimmtes Leben
selbstbestimmtes LebenBehinderte sollten am Arbeitsmarkt teilhaben können - aber die Bürokratie macht es ihnen schwer, einen Platz außerhalb betreuter Werkstätten zu finden

Von Corinna Nohn
München - Wenn Jan Hellermann seinen Eltern von der Arbeit erzählen möchte, dann zeigt er ihnen Fotos auf seiner Digitalkamera: von den Ziegen, denen er mit der Schubkarre Heu bringt, oder von seiner Kehrmaschine, mit der er über den Hof des Ausflughotels Dammenmühle fahrt Der 19-Jährige aus Lehr im Schwarzwald kann nicht reden, aber verstehen. Er hält es nicht den ganzen Tag im Haus aus, aber im Garten. Jan Hellermann ist geistig behindert, und hatten es sich Hubertus Hellermann und Christine Dold leicht gemacht, dann hätten sie ihren Sohn in eine Sonderschule und später in eine Werkstatt für behinderte Menschen geschickt. Aber Jan Hellerrnann besuchte eine integrative Waldorfschule, mit „normalen Kindern", sagt der Vater und auch danach sollte er mitten in der Gesellschaft weiterleben.

Dieses „Mittendrin" fordern auch die Vereinten Nationen, die am 3. Dezember den Internationalen Tag der Menschen mit Behinderung begehen und den Ruf nach gleichberechtigter Teilhabe in die Behindertenrechtskonvention übernommen haben. Die wiederum ist seit März 2009 Grundlage der deutschen Behindertenpolitik. Seitdem heißt das Ziel „inklusive Gesellschaft" - das Attribut "inklusiv" deutet schon darauf hin, dass die Gesellschaft Behinderte eher ausschließt. Um das zu ändern. hat Sozialministerin Ursula von der Leyen vor drei Monaten einen „nationalen Aktionsplan" verkün- del. Sie will besonders den drei Millionen Behinderten im erwerbsfähigen Alter die Teilhabe am Arbeitsmarkt erleich-
tern und sagt: "Arbeiten heißt eine Aufgabe haben, Struktur im Tag, soziale Kontakte und das gute Gefühl. gebraucht zu werden. Ohne Teilhabe am Arbeitsleben wird es schwer mit der Inklusion."

So sieht das auch Familie Hellermann-Dold, doch sie vermisst Hilfe. Iriklusion ist teuer, und das wichtigste Instrument zur Finanzierung ist das „Persönliche Budget": Seit 2008 haben behinderte Menschen einen Rechtsanspruch darauf, anstatt einer Sachleistung Geld zu erhalten und Ihre Teilhabe individuell zu verwirklichen. Offizielle Zahlen, wie viele dieses Recht nutzen, gibt es nicht. Die Bundesregierung geht von bis zu 15 000 Nutzern aus - angesichts dessen. wie Behindertenverbände das Budget preisen, sind das nicht viele Jan Hellermanns Geschichte lässt jedoch darauf schließen. dass viele beim Antrag scheitern.

„Der Hotelbesitzer nimmt den Jan, wie er ist. Das ist wunderbar", sagt die Mutter.

Denn Jan Hellermanns Eltern wollten für ihren Sohn ja keinen Platz in einer Behindertenwerkstatt. „Jan war immer integriert, nie in einer Sondereinrichtung". sagt Christine Dold. Arzteattestierten ihrem Sohn zudem, dass er nicht „werkstattfühIg" ist. Also suchten seine Eltern eine Tatigkeit, die Jan Hellermann unter Aufsicht eines Betreuers ausüben könnte, und fanden die Darnmenmühle. „Sie müssten mal sehen, wie Jan sich freut. wenn er uns ein paar verschrumpelte Apfel mitbringt Oder wenn nach dem Urlaub der Chef sagt: Endlich ist der Jan wieder da. Wo werden Behinderte denn mal gelobt?". fragt Christine Dold. Für den Hotelbesitzer Edgar Kenk sei es dagegen „normal, dass ein Behinderter auf seiner Anlage herumläuft, er nimmt den Jan, wie er ist. Das ist wunderbar " Der Vater sagt, sie hätten auf den Platz fast vier Jahre lang hingearbeitet", und erzählt, wie er mit seinem Sohn Äpfel sammelte, wie die Mutter mit Jan im Freibad Hecken schnitt. Das Üben, das Suchen - habe sich gelohnt, sagen die Eltern. Nur müssen sie den Betreuer ihres Sohnes bislang selbst bezahlen, ihr Antrag auf ein personliches Budget wurde abgelehnt.

Das Problem: Für das Budget muss der Träger aufkommen, der auch die Sachleistung zahlen müsste. Und im Fall Jan Hellermann sagte erst die örtliche Agentur für Arbeit, sie sei nicht zuständig - mit dem Argument, Jan sei ja gar nicht werkstattfähig. Dann erklärte sich auch das Sozialamt für nicht zuständig. Der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Hubert Hüppe (CDU). kennt solche Fälle. Insbesondere. wenn mehrere Träger für die Entscheidung zuständig seien, gebe es oft Probleme und Verzögerungen. sagt Huppe. Er weiß auch um die Burokratie, die regional höchst unterschiedliche Beratung, mögliche Interessenkonflikte: "Es kann ja sein, dass der Träger, der über das Budget zu entscheiden hat, von dieser Entscheidung selbst einen Nachteil hat oder aber profitiert."

Jan Hellermanns Eltern jedenfalls wollten es nicht hinnehmen, dass sie den Betreuer ihres Sohnes selbst zahlen müssen, und zogen vor Gericht. "Wir haben
alles getan, was wir konnten, und dann heißt es: Sie kriegen nichts, weil Sie zwischen allen Stühlen sitzen", sagt Hubertus Hellennann. Roland Rosenow, wissenschaftlicher Mitarbeiter der Anwaltskanzlei „Sozialrecht in Freiburg", die die Familie vertritt, spncht von einem ”rechtswidrigen Züstand". Er kenne viele Fälle, in denen „die Idee des persönlichen Budgets heftigsten Widerständen mit der Verwaltung und auch vor Sozial- und Verwaltungsgerichten begegnet".

Im Bundesarbeitsministerium war man da bislang anderer Ansicht. ein Sprecher hatte der SZ, erklart: Die Auffassung, man könne das Geld, das an die Werkstatt fließt, erhalten, um eine Leistung zur Teilhabe am Berufsleben außerhalb der Werkstatt einzukaufen, sei nachvollziehbar, „weil sie dem Grundgedanken des persönlichen Budgets entspricht". aber mit dem "geltenden Recht nicht vereinbar". Denn die Leistung sei an den Besuch einer anerkannten Werkstatt für behinderte Menschen geknüpft. Zumindest betrachtet man auch im Ministerium die Rechtslage als "unbefriedi-
gerd" - aber Bund und Länder arbeiteten an einer Lösung.


Ein Urteil des Bundessozialgerichts gibt der Familie Hoffnung.

Ein Urteil der Bundessozialgerichts vom Donnerstag dürfte diese Lösung vorwegnehmen: In Kassel stellten die Richter fest, dass ein persönliches Budget auch außerhalb und unabhangig von einer Werkstatt möglich ist. Es sei in jedern Fall der grundlegende Gedanke das persönlichen Budget zu beachten, Behinderten „damit ein selbstbestimmtes Leben in eigener Verantwortung" zu ermöglichen. Das ist im Sinne der Familie Hellermann-Dold, die aber ohnehin gerade guter Dinge ist: Vor wenigen Tagen haben sich Vertreter des Landratsamts bei ihnen gemeldet. Man wolle sich gemeinsam um eine Lösung bemühen. Immerhin sind mittlerweile Kosten für den Betreuer im fünfstelligen Bereich aufgelaufen - die übrigens der Freiburger Kinder- und Jugendhilfeverein „Wiese" vorfinanziert hat, der überhaupt nicht für die Integration von Menschen mit Behinderungen auf dem Arbeitsmarkt zuständig ist.

Betriebe in der Pflicht


Etwa 7.1 Millionen schwerbehinderte Menschen lebten laut Statistischem Bundesamt im Jahr 2009 in Deutschland. Inzwischen dürften es sogar mehr sein: Denn vier Fünftel aller schweren Behinderungen gehen auf Krankheiten zurück, und weil es immer mehr Ältere gibt, sind auch mehr Menschen betroffen. Mehr als jeder Zweite mit einer Behinderung von Grad 50 oder mehr ist älter als 65.

Im erwerbsfähigen Alter waren zuletzt 3.2 Millionen Schwerbehinderte, doch nur jeder Dritte von ihnen war erwerbstätig oder suchte Arbeit. Eigentlich müssen Betriebe mit mehr als 20 Mitarbeitern auf mindestens fünf Prozent ihrer Arbeitsplätze Schwerbehinderte beschäftigen, bis 2001 waren es sogar sechs Prozent. Erfüllt ein Unternehmen diese Quote nicht, wird die sogenannte Ausgleichsabgabe fällig. Sie richtet sich danach. wie viel der Betrieb von der Quote entfernt ist, und liegt zwischen 105 und 260 Euro pro Monat und unbesetztem Pflichtarbeitsplatz. Im Jahr 2009 waren 252 000 solcher Pflichtstelen unbesetzt. Gleichzeitig waren 166 000 schwerbehinderte Menschen arbeitslos gemeldet. das entspricht einer Arbeitslosenquote von 14.5 Prozent.

Seither ist die Arbeitslosenzahl um fünf Prozent gestiegen: Im September dieses Jahres waren etwa 175 000 Schwerbehnderte arbeitslos. In der Gesamtbevölkerung hingegen sank die Zahl der Arbeitslosen seit 2009 um 16 Prozent.