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 Schule 
Mitleid ist der falsche Ansatz
Lehrer sollen behinderte und nicht-behinderte Kinder gemeinsam unterrichten - doch viele wissen nicht wie das geht.

Schule-behinderte und nicht-behinderte KinderVon Susanne Kailitz
Woher sie damals die Gewissheit hatte, dass Sie es hinbekommen würde, weiß Birgit Herzog bis heute nicht. Als sie vor elf Jahren gefragt wurde, ob sie sich vorstellen könne, gemeinsam mit einer Sonderpädagogin in ihrer Grundschulklasse auch drei geistig behinderte Kinder zu untenicliten, habe sie das einfach für'eine gute Idee gehalten, erinnert sich die Leipzigerin. „Aber wie das konkret funktionieren sollte, wusste eigentlich keiner. Von inklusivern Unterricht hatte ich in meiner Ausbildung nie gehört."

Doch es klappte, und das sogar so gut, dass aus dem Besuch der drei Förderschüler für einige Stunden wöchentlich in der Grundschulklasse mittlerweile eine gemischte Klasse.aus 14 Grund- und acht Förclerschülerri geworden ist. Organisiert wird sie geineinsam von der Lindenhofschule für geistig Behinderte und der benachbarten Grundschule. Genau das ist es, was die UN-Konvention für die Rechte Behinderter anstrebt, die seit zwei Jahren in Deutschland in Kraft ist:

Ein Schüler will sich nicht setzen,
ein anderer möchte
den ganzen Tag schweigen.


dass alle Kinder, unabhängig von ihren körperlichen und geistigen Voraussetzungen, eine Regelschule besuchen können, wenn "die Eitern das wünschen. Doch davon ist Deutschland weit entfernt. Mehr als drei Viertel aller Kinder mit Behinderungen werden in Sonderschulen unterrichtet. Obwohl Studien zeigen, dass sowohl behinderte wie nichtbehinderte Kinder vom gemeinsamen Unterricht profitieren können, kommen Ansätze zur „Inklusion", also zum gemeinsamen Unterricht, nur schleppend voran.

Für Birgit Herzog war die Entscheidung damals ein Sprung ins kalte Wasser. Wie man mit einem Schüler wie Nico umgeht, der sich manchmal weigert, sich hinzusetzen, und schnell schubst, wenn er aufgeregt ist, wusste sie zunächst nicht. Wie sie einschätzen kann, was Philippe, der oft den ganzen Tag nicht sprechen will, wirklich verstanden hat, musste sie erst herausfinden. Und wie mit Helen, die sich nur schwer artikulieren kann und schnell weint, wenn ein anderes Kind nicht mit ihr spielen will, umzugehen ist, ohne dabei die Bedürfnisse der anderen Schüler aus den Augen zu verlieren, hat Herzog erst mühsam in der Praxis lernen müssen. Das liegt auch daran, dass Lehrer wie sie auf den „inklusiven" Unterricht so gut wie überhaupt nicht vorbereitet sind: So gibt es zwar an 24 von 43 deutschen Hochschulen, die Grundschullehrer ausbilden, Lehrangebote zum gemeinsamen Unterricht. Verpflichtend sind die Veranstaltungen aber in der Regel nicht. Mecklenburg-Vorpommern will das jetzt ändern. Ein neues Gesetz zur Ausbildung von Lehrern verlangt, dass alle Studierenden auch Kurse in Sonderpädagogik belegen.

Sich auf Kinder mit einer geistigen Behinderung oder gestörtem Sozialverhalten einzulassen, die im Unterricht lieber singen oder quieken, als zuzuhören, und die mit Frustration umgehen, indem sie sich oder andere verletzen, ist etwas, was die Lehramtsstudenten in der Regel nicht lernen. Wer mit diesen Herausfor derungen nicht umzugehen weiß, neigt eher dazu, auffällige Kinder an Förderschulen weiterzureichen - vor allem dann, wenn es wie in Deutschland eine so ausgeprägte Kultur des Aussortierens gibt und auch viele Lehrer nicht wissen, dass es anders geht.

Die Erziehungswissenschaftlerin Irene Demmer-Dieckmann bietet an der Technischen Universität Berlin seit acht Jahren Seminare zu dem Thema an: „Dass gemeinsamer Unterricht überhaupt möglich ist, davon haben einige Studierende noch nie etwas gehört." Nur drei Prozent der künftigen Lehrer hätten jemals von der entsprechenden UN-Konvention gehört. Ein Modul „Inklusive Bildung" Müsse dringend in den Studien- und Prüfungsordnungen verankert werden, sagt Dernmer-Dieckmann. „Wir brauchen Lehrer, die nicht hilflos fragen, wohin ein Kind mit besonderen Bedürfnissen überwiesen werden kann, sondern die in der Lage sind, so zu handeln, dass es bleiben kann."
Wer sich als Grundschullehrer auf den gemeinsamen Unterricht einlässt, für den ändert sich einiges: Es gibt Unterricht im Team, die Stunden müssen akri, bisch im Voraus geplant und später nachbereitet werden. Nötig ist besondere Sensibilität für die Bedürfnisse behinderter Kinder. Sie fehlte auch Birgit Herzog anfangs — stattdessen hatte sie Mitleid: „Ich habe die Förderschüler bedauert und gedacht, sie würden mich gar nicht verstehen und ich müsse mit ihnen ganz anders sprechen als mit meinen Grundschülern."

Auch Ute Schnabel, die Vorsitzende des Landesverbandes Sonderpädagogik in Sachsen, berichtet, wie schwer sich viele Regelschullehrer mit lernbehinderten oder verhaltensauffälligen Kindern tun. „Für viele Grundschullehrer ist es ein Wert an sich, dass sie sich bemühen, alle Kinder gleich zu behandeln, um niemandem einen Vorteil zu verschaffen." Es sei aber notwendig, sich mit der Verschiedenheit der Schüler auseinanderzusetzen. Und auch die ausgebildeten Sonderpädagogen müssen sich im gemeinsamen Klassenzimmer umstellen:

Seminare zur „Inklusion"
müssten in der Ausbildung
Pflicht werden.


Wer sich bislang im Unterricht mit acht Kindern gezielt um einen einzelnen Schüler kümmern konnte, für den ist es schwer, auf einmal eine Klasse mit bis zu 28 Kindern im Blick zu behalten. Deshalb reagieren auch manche Eltern behinderter Kinder skeptisch auf die Angebote zur Inklusion. Sie befürchten, ihr Kind werde im gemeinsamen Unterricht zu kurz kommen.
Für viele Lehrer ist die Umstellung hart. In Leipzig gibt es bislang nur zwei gemischte Klassen, obwohl Bedarf für mehr da ist: Vor allem die Eltern vieler Grundschüler würden bei der Anmeldung ihrer Kinder gezielt danach fragen, sagt Schulleiterin Mandy Mahn. Doch so gern sie diesem Wunsch nachkommen würde: „Unter meinen Lehrern sind nur wenige dazu bereit, und ich kann und möchte hiemänden zwingen."

Die Bedingungen sind, nicht optimal: Nur eine Stunde pro Woche kann die Rektorin einer Lehrerin wie Birgit Herzog für Vorbereitungen und Absprachen mit der Sonderpädagogin gewähren, obwohl das hinten und vorn nicht reicht. Möglichkeiten, die zusätzliche Leistung finanziell zu honorieren, gibt es nicht.
Mahn kann deshalb die Kollegen gut verstehen, die sich dem Mehraufwand des gemeinsamen Unterrichts nicht stellen wollten. Sie hofft auf künftige Lehrergenerationen, die dazu bereit sind, weil es zu ihrer Vorstellung des Berufs gehört, dass die Schule einen Raum für alle Kinder bietet.

SZ / 11.07.2011